Der Papiertiger: Vorurteile |
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Der Papiertiger ist eine Enzyklopädie des Sadomasochismus, zusammengestellt von Datenschlag. Hier erklären wir Begriffe aus dem SM-Bereich und stellen sie in den Zusammenhang der sadomasochistischen Subkultur und ihrer Traditionen.
Vorurteile sind der Versuch, Handlungen, die auf dem Hintergrund der eigenen Lebenssituation nicht erklärbar sind, eine Motivation zuzusprechen. Sie speisen sich aus Unkenntnis der tatsächlichen Hintergründe und ermöglichen es, sich nicht mit schwerverständlichen oder unangenehmen Einstellungen auseinanderzusetzen. Dadurch führen sie allerdings zu Ansichten, die dem Gegenstand der Vorurteile nicht gerecht werden.
Hier werden Vorurteile der Allgemeinbevölkerung, der Wissenschaft und auch der Sadomasochisten selbst besprochen. Vorurteile von Mainstream-Schwulen und -Lesben werden wegen der besonderen Bedeutung für die einzelnen Subkulturen einzeln dort besprochen.
Einteilung der Vorurteile:
Vorurteile gegen Sadomasochisten sind wie alle Vorurteile sehr stark von der Gesellschaft geprägt. Den Medien kommt dabei sowohl bei der Verbreitung als auch der Bekämpfung von Vorurteilen eine tragende Rolle zu.
Das vielleicht zentrale Vorurteil gegenüber Sadomasochisten ist das der Gleichsetzung sadomasochistischer Praktiken mit Gewalt. Die Ursache dieses Vorurteils ist vermutlich in der gewalthaltigen Symbolik sowohl der sadomasochistischen Praktiken als auch der Spielzeuge zu sehen. In der breiten Öffentlichkeit fehlt bis jetzt das Bewusstsein, daß zwischen den Akteuren tiefe emotionale Bindungen bestehen können und die scheinbare Brutalität durch Regeln, Absprachen und Safewords entschärft wird. Die Frage, wie man jemandem weh tun könne, den man liebt, wird von Nichtsadomasochisten häufig gestellt. Außenstehenden ist schwer zu vermitteln, daß das nicht unbedingt im Widerspruch stehen muss.
Vermutlich auf Sartre, Jean-Paul geht die Vorstellung zurück, dem Sadismus wie dem Masochismus liege ein Gefühl der Schuld zugrunde. Sartres Erklärung, die unter Sartre, Jean-Paul besprochen wird, findet sich zum Beispiel im Lesbenknigge1, (vgl. auch Lesben).
Eng mit dem nächsten Punkt, Steigerung verknüpft ist die Vorstellung, daß Sadomasochisten mir ihrer Form der Sexualität nicht wie Vanilles umgehen können, d.h. sie kontrolliert ausleben, sondern daß sie willenlos einer Sucht nach Spielen unterworfen seien.
Ausgangspunkt dieses Vorurteils dürften die Untersuchungen des Begründers der Sexualwissenschaft, Krafft-Ebing, Richard sein, die aber an sexuell auffällig gewordenen Straftätern und psychisch Kranken erfolgten. Hier war häufig ein Wechsel zwischen Verneinungs-Schüben und sadistischen oder masochistischen Durchbruchshandlungen zu beobachten, wie sie bei konsensuellen Sadomaochisten - insbesondere wenn ihr Inneres Coming Out hinter sich haben - nicht vorkommen.
Relativ gängig ist die Vorstellung, daß die Intensität der sadomasochischen Spiele sich immer weiter steigert - im Extremfall bis zum Sexualmord. Diese Vorstellung ist typisch für eine Verwechslung von sadistisch gestörten Straftätern und konsensuellen Sadomasochisten.
Grundlage dieses Vorurteils dürfte die Berichterstattung über autoerotische Todesfälle (hauptsächlich durch Strom- und Würgespiele) und die häufig dramatischen Begleitumstände sein, von der Rückschlüsse auf die sadomasochistische Sexualität gezogen werden. Die schlechte wissenschaftliche Datenlage über Sadomasochismus fördert dies noch. Auch das Spielen mit martialischen Symbolen wie Peitschen und schwarzem Leder hat vermutlich solche Auswirkungen.
Die sadomasochistische Subkultur hat das Bildnis vom Baum des Sadomasochismus hervorgebracht um ihr Selbstbild in dieser Hinsicht zu beschreiben: nach einer Explorationsphase, die durchaus ein Herantasten an extremere Praktiken umfassen kann bleibt ein indiduell unterschiedlisches Niveau mehr oder minder erhalten.
Zu den notorischen Vorurteilen über Sadomasochisten gehört, dass sie gefährlich für die Allgemeinheit seien. Auch hier findet eine Vermengung von konsensuellen Sadomasochisten mit sadistischen Sexualstraftätern (Realsadismus) statt. Medizinisch-wissenschaftlich ist dies nicht mehr haltbar; bis sich die Unterscheidung allerdings auch in der breiten Öffentlichkeit durchgesetzt hat, wird wohl noch einige Zeit vergehen.
Es wird auch behauptet, daß Sadomasochisten überwiegend hochriskante Spielarten bevorzugen (siehe Steigerung). Einer der Mythen über Sadomasochisten ist die Vorstellung, daß Praktiken, die mit Blut zu tun haben, allgemein an der Tagesordnung seien. Auch wenn Bloodsports (s. Eintr.: Blut) natürlich von Sadomasochisten praktiziert werden, wird hier nur eine von vielen Praktiken aufgrund ihrer eindringlichen Symbolik herausgegriffen.
Trotzdem wird dieses Vorurteil manchmal benutzt, um den Sadomasochismus als eine besonders gefährliche Form der Sexualität darzustellen und Warnungen über die Gefahr der Übertragung von HIV und dem Vorkommen anderer Krankheiten wie der Gelbsucht (s. Eintr.: Hepatitis) beim Kontakt mit Sadomasochisten auszusprechen.
Zur Sensationsgeilheit darf auch die relativ häufig gezogene innige Verbindung zwischen Sadomasochismus und Satanismus gezählt werden. In2 (siehe unten) bringt Reiner Gödtel diese Behauptung vor, ohne Datenmaterial dazu liefern zu können (vgl. dazu Subkultur), und im Fernsehen findet man immer wieder entweder Sadomasochisten, die Teufelsanbeter sind oder Satanisten, die sadomasochistische Praktiken bei ihren Messen anwenden. Hier mag als Beispiel die Folge Kinder des Saturn aus der Serie Doppelter Einsatz dienen, die am 9. Januar 1996 ausgestrahlt wurde. Zwar zeigen beide Gruppen eine Vorliebe für schwarze Kleidung, schotten sich gegenüber der Außenwelt zu einem gewissen Grad ab und einzelne Mitglieder der einen fühlen sich auch der anderen Subkultur zugehörig. Und es ist natürlich auch nicht ausgeschlossen, dass einzelne Sadomasochisten auch Schwarze Messen als Rollenspiele bevorzugen. Aber die Behauptung, es bestehe eine enge und innige Verzahnung zwischen den beiden Subkulturen, entbehrt jeder Grundlage.
Eine besondere Form der Vorurteile finden sich in der Populärpresse. Hier wird man den Eindruck nicht los, daß gezielt und wider besseres Wissen Vorurteile benutzt und sogar neue erfunden werden, um die Quote zu steigern. Als ein Beispiel mag der Stern Heft 42, Oktober 1993 dienen3. Dort findet man unter der Überschrift "Spiel ohne Grenzen":
Deutschland bizarr: In Hamburg stellt der Fotograf und Fetischist Gilles Berquet unter dem Beifall der Kunst-Schickeria Bilder von grotesk verschnürten Frauen aus. In München locken die Discos die Teenies zur Orgasmus-Show, in Kino und Popmusik regiert Obszönität. Brave Bürger lassen mit wachsender Lust die S/M-Sau raus, zu Hause und in der Öffentlichkeit. Wird unsere Gesellschaft immer perverser?
Die Autorin Irmgard Hochreither läßt in dem Artikel kaum ein Vorurteil aus und erwähnt im Zusammenhang mit Sadomasochismus (bezeichnenderweise hier Sado-Maso genannt) den Film Boxing Helena ("Verstümmelungserotik"), die Benetton-Werbung mit einem sterbenden AIDS-Kranken, Reality-TV und natürlich Gewalt - alles unter dem Oberthema der Überschreitung der Grenzen des "guten Geschmacks".
Stern Heft 42 Oktober 1993 |
Wie in den meisten dieser Artikel werden die sonst in der eigentlichen Subkultur kaum verwendeten Begriffe bizarr und Sado-Maso benutzt, die mehr und mehr zu einer Art Kennzeichen oberflächlicher und schlecht recherchierter Berichte werden. Von Perversionen wird auch hier durchgängig gesprochen, auch wenn im Bericht selbst der Soziologe Rüdiger Lautmann zitiert wird, der den Begriff ablehnt.
Es findet sich auch das klassische Vorurteil der Sucht bzw. dem Zwang zur Steigerung:
Um zu spüren, daß wir noch leben, springen wir an elastischen Seilen von Brücken. Und wenn uns der Flirt mit dem Tod nicht mehr aufgeilt, beginnen wir, unseren eigenen Körper zu verstümmeln, nieten uns Glöckchen durch die Zunge, bohren uns Ringe durch die Brustwarzen und andere empfindliche Teile.
Der moralische Zeigefinger fehlt natürlich auch nicht:
Im Sumpf von Sorgen, Sex, Suff und Sauereien sinken die Schamschwellen, fallen die Tabus.
Es braucht nicht gesagt werden, daß dieser Artikel mit ausführlichem Bildmaterial ausgestattet wurde, damit sich der entrüstete Leser ein Bild davon machen kann, wie eine der "grotesk verschnürten" Frauen oder ein gepiercter Busen aussieht und daß das Titelbild eine dieser Perversen in Großaufnahme zeigt - alles Standard bei solchen Berichten.
Daß es auch anders geht, bewies schon im November 1992 das Ruhrgebietsmagazin Marabo, das einen Artikel mit dem Titel Sexuelle Minderheiten - Ein Sadist packt aus4 druckte - ohne reißerisches Titelbild und solide recherchiert.
Leider ist auch die Wissenschaft nicht frei von Vorurteilen, die aus der unzulänglichen Methodik früherer Untersuchungen herrühren. Die Diskussion um DSM und ICD zeigt das Zögern, mit dem auch überholte Positionen aufgegeben wurden und obwohl Texte wie5 in der Medizin und6 in der Soziologie zeigen, daß die Wissenschaft sich in einigen Fällen einem realistischen Verständnis des Sadomasochismus annähert, gibt es genügend Gegenbeispiele.
Als Beispiel mag auch hier das Buch "Sex und Gewalt" von Reiner Gödtel dienen2. Das Buch handelt hauptsächlich von sexuellem Mißbrauch, sprich Vergewaltigungen, Gewalt in der Ehe, sexuellen Tötungsdelikten. Die dort vorgestellten Ansichten sind keineswegs auf dieses Werk beschränkt (vgl. auch die Zitate unter Autoaggression), aber die einzelnen Aussagen liegen hier in einer besonders konzentrierten Art vor und Professor Gödtel hat als Gerichtsgutachter eine so bedeutende Stellung inne, daß sich eine genauere Betrachtung lohnt.
Prof. Gödtels Buch erschien zuerst 1992 bei Hoffmann und Campe. Später wurde es als Teil einer größeren Reihe im rororo Verlag veröffentlicht, ironischerweise zusammen mit einer Neuauflage von6 (letztere Untersuchung setzt eine Methodik ein, die sich von der Begutachtung medizinisch oder forensisch auffälliger Einzelpersonen löst).
Über Sadomasochisten hat Gödtel nichts Gutes zu sagen. So schreibt er:
Für den sadomasochistischen Devianten hat der Koitus die zentrale Bedeutung verloren. Er weicht aus auf andere Praktiken und Phantasien. Die Frau mit reifer Sexualität macht ihm Angst. (S. 53)
und:
Der Deviante lebt in ständiger Angst vor dem Kontrollverlust gegenüber seinen destruktiven Impulsen, deshalb versucht er, die Frauen zu schützen, indem er seine Handlungen ritualisiert. Diese Ritualisierung verhindert ein unkontrolliertes Durchbrechen der Aggressionen und stellt gleichzeitig eine Strafmotivation (statt eines unmotivierten Quälens) her.
Dabei kann man ihm nicht vorwerfen, nicht von den vielen Frauen gehört zu haben, die sich offen zum Sadomasochismus, auch zu ihrer Vorliebe für eine Rolle als Bottom, bekennen:
Obwohl es offenbar total dem Zeitgeist widerspricht, bekennen heute immer mehr Frauen, daß sie in sich sich starke masochistische Tendenzen verspüren. (...) Die Frauen, die sich zu ihrem Wunsch nach Unterwerfung, nach Gehorsam und Demut bekennen, sind glücklich und keineswegs selbstverleugnend und unemanzipiert. Sie möchten auch auf keinen Fall diese Eigenheit missen, eine Therapie kommt für die meisten überhaupt nicht in Frage. (S. 58f.)
Dominante Frauen finden bei Gödtel keine Erwähnung. Gödtel ist zwar offensichtlich mit neueren Publikationen zum Sadomasochismus vertraut (siehe dazu auch die Bemerkungen bei der Literaturstelle), aber anscheinend nicht in der Lage, deren Inhalt zu verarbeiten. Dieses Beharren auf veralteten Vorstellungen im Angesicht neueren Wissens in den Reihen der Mediziner wird einer realitätsnäheren Betrachtung des Sadomasochismus vermutlich noch lange Zeit im Weg stehen.
Gödtel muß zugute gehalten werden, daß ihm durch seine jahrzehntelange Tätigkeit als gynäkologischer Untersucher von vergewaltigten Frauen die Vorstellung von Machtspielen und Schmerzzufügung als freiwillige und lustbringende Freizeitbeschäftigung schwer verständlich erscheinen muß. Sein Geburtsjahrgang 1938 bedeutet auch, daß er während seiner Ausbildung in Medizin und Psychatrie (dazu noch in der analytischen Psychotherapie) Theorien über den Sadomasochismus ausgesetzt war, die heute in als überholt gelten müssen.
Es muß als fragwürdig angesehen werden, ob jemand mit den Vorstellungen über Sadomasochismus, wie sie in2 dargelegt werden, in der Lage wäre, in einem Verfahren über oder mit einem Sadomasochisten objektiv und dem Stand der Forschung entsprechend Informationen zum Thema zu liefern.
Die Polizei der verschiedensten Länder hat ebenfalls Schwierigkeiten, Sadomasochisten und Psychopathen auseinanderzuhalten. Berüchtigt ist inzwischen der in England aufgetretene Spanner Case, der unter diesem Stichwort besprochen wird.
In Deutschland wurde 1996 von der Staatsanwaldschaft Limburg ein Flugblatt in Discos der Region verteilt, mit dem die Vergewaltiger von zwei 1995 vergewaltigten Schülerinnen gesucht werden. In S/M-Depesche 5/6 1996 wird zitiert:
Höchstwahrscheinlich haben der oder die Gesuchten einen Hang zu sadistischen Handlungen oder auch Interesse an der Herstellung oder dem Besitz sadistisch-masochistischer Pornographie (z.B. Videos). Sie sind wahrscheinlich schon durch Aggressivität, Grausamkeit oder abartiges Sexualverhalten gegenüber Frauen aufgefallen, vielleicht auch durch weitere Angriffe mit Chloroform. (...) Perverse Spinner wahrscheinlich ...
Ein Eintrag über Vorurteile muß auch die Vorteile besprechen, die Sadomasochisten gegenüber anderen wie auch gegenüber sich selbst hegen. Gegenüber der Bevölkerungsmehrheit machen sich viele Sadomasochisten einer gewissen Arroganz schuldig. So wird behauptet, eine befriedigendere Form der Sexualität gefunden zu haben, ohne zu berücksichtigen, dass diese für andere Personen vielleicht keineswegs befriedigend wäre. Aus der gleichen Motivation heraus hört man manchmal, "eigentlich" besäßen alle Menschen eine Anlage zum Sadomasochismus - viele würden es sich nur nicht eingestehen wollen. Beide Aussagen sind nicht belegbar.
Unter Sadomasochisten kommt es immer wieder zu Diskussion über Spiel- und Lebensweisen, in denen schnell die eigene Definition von BDSM zu einer allgemeinen Meßlatte erhoben wird. Dies kann dazu führen, daß sich Lager bilden, die einander zu beweisen suchen, daß nur sie "echte" Sadomasochisten bzw. daß die Angehörigen des anderen Lagers krank oder pervers seinen (vergl. YKINOK). Auch hier dürfte die Unfähigkeit, sich in fremde Lebenssituationen hineinzuversetzen, die Ursache sein.
Literaturhinweise:
1 West, Celeste:
Der Lesbenknigge [Details]
2 Gödtel, Reiner:
Sexualität und Gewalt [Details]
3 Hochreither, Irmgard:
Deutschland bizarr. Perversion als Gesellschaftsspiel [Details]
4Dieser Literaturverweis ist noch ungültig.
Wir arbeiten dran.
5 Bräutigam, Walter / Clement, Ulrich:
Sexualmedizin im Grundriss: Eine Einführung in Klinik, Theorie und Therapie der sexuellen Konflikte und Störungen [Details]
6 Wetzstein, Thomas A. / Steinmetz, Linda / Reis, Christa / Eckert, Roland:
Sadomasochismus - Szenen und Rituale [Details]
Synonyme: Satanismus, echter Bottom, echter Sadomasochist, echter Top
Auf diesen Eintrag verweisen: Autoaggression, Baum des Sadomasochismus, bdsm.de, Bestrafungsspiel, Blut, Comics, Domina, Filmknebel, Frauen, Geschichte der Forschung, Geschützter Raum, Gewalt, Humor, Internet, Lesben, Lustmord, Medizin, Neulinge, Old Guard, Presse, Sadophobie, Sartre, Jean-Paul, Schlagartig!, Selbstverletzung, Stand der Forschung, Subkultur, Total Power Exchange, Weinberg, Thomas S.
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Stand: 02.12.2002.
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