Papiertiger

Der Papiertiger: Krafft-Ebing, Richard

 
   
   
   
   
   
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Der Papiertiger ist eine Enzyklopädie des Sadomasochismus, zusammengestellt von Datenschlag. Hier erklären wir Begriffe aus dem SM-Bereich und stellen sie in den Zusammenhang der sadomasochistischen Subkultur und ihrer Traditionen.



Voller Name, Freiherr Richard von Krafft-Ebing, geb. am 14. August 1840 in Mannheim [Chronik: 14. August 1840], gest. 22. Dezember 1902 in Graz [Chronik: 22. Dezember 1902].

Österreichischer Psychiater und Gerichtsarzt, der mit seinem Monumentalwerk Psychopathia Sexualis die Einteilung gewisser sexuellen Vorlieben in Kranksheitsbilder erschuf und die Begriffe Sadismus und Masochismus prägte. KE studierte in Heidelberg und Zürich, promovierte 1863 in Heidelberg, habilitierte sich in Leipzig und wandte sich der Psychiatrie zu, nachdem er von den Vorträgen Griesingers begeistert worden war1.
KE wurde 1902 pensioniert, und starb am 22. Dezember 1902. Er veröffentlichte insgesamt mehr als 25 Bücher und mehrere hundert Einzelveröffentlichungen

Er wurde bekannt durch die Veröffentlichung eines Standardwerks über die diagnostische Einteilung diverser Geisteskrankheiten. Das Datenmaterial gewann er aus seiner Tätigkeit in Wiener psychiatrischen Krankenhäusern.
Das wohl bekannteste Werk von KE, die 1886 veröffentlichte Psychopathia Sexualis [Chronik: 1886] ist der Versuch, eine ähnliche Einteilung auch auf sexuelle Geistesstörungen (Perversionen) auszudehnen. 1890 definierte er u.a. die Begriffe Sadismus und Masochismus [Chronik: 1890] anhand der Werke der Schriftsteller Marquis de Sade (s. Eintr.: de Sade, Marquis) und Sacher-Masoch, Leopold von und belegt die neu geschaffenen Kategorien mit einer Fülle von Fallschilderungen, teilweise aus der eigenen Praxis, teilweise von Kollegen aus ganz Europa. In seinem Nachlass fanden sich fast 1.400 Fallbeschreibungen aus der Zeit von 1871 bis 1902.
Da es aus dem Blickwinkel eines Mediziners geschrieben ist und überwiegend auf straffällig gewordenen Personen beruht, die er als Gerichtsmediziner zu begutachten hatte, leidet der Wert seiner Klassifikation erheblich unter einer unbewussten Vorselektion der beschriebenen Fälle, die ihm den Blick dafür verstellte, daß manche seiner Perversionen von sich aus in keiner Weise gefährlich oder krankhaft waren. Weder KE noch seine zeitgenössischen Kollegen waren in der Lage, Kriterien zu entwickeln, um zwischen alternativem, erfüllendem Sexualverhalten und soziopathischen Störungen, die sich im Sexuellen manifestieren, zu unterscheiden. Damit verpasst Krafft-Ebing die Chance, eine Kartierung des menschlichen Sexualverhaltens aufzustellen, zu der die Psychopathia Sexualis sich hätte entwickeln können.

Daß es das, was man heute als konsensuellen Sadomasochismus beschreibt, unter seinen Fällen gab erkannte KE durchaus2:

Beim Versuch einer Erklärung der Verbindung von Wollust und Grausamkeit muss man auf die quasi noch physiologischen Fälle zurückgehen, ikn denen, im Momente der höchsten Wollust, ein sehr erregbares, aber sonst normales Individuum Akte wie Beissen und Kratzen begeht, die sonst vom Zorne eingegeben werden.

Über den Masochismus schreibt er dort:

Auch die Akte, denen die Masochisten sich hingeben, werden von einigen in Verbindung mit dem Koitus ausgeführt, resp., präparatorisch verwendet, von anderen zum Ersatze des unmöglichen Koitus. Auch hier hängt dies nur vom Zustand der meist physisch oder psychisch durch die perverse Richtung der sexuellen Vorstellungen beeinträchtigten Potenz ab und betrifft nicht das Wesen der Sache.

Die Anlage seines Werkes war jedoch zu unsystematisch und er war zu sehr im Geist seiner Zeit verfangen, um zu erkennen, daß dies in Widerspruch zu der These, es gäbe eine Tendenz der notwendigen Steigerung perverser Praktiken stand.

In seinem Vorwort zu Szenen und Rituale3 schreibt Prof. Erwin J. Häberle, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung

Richard von Krafft-Ebing, auf den beide Begriffe - Sadismus und Masochismus - zurückgehen, sah in ihnen vor allem "sexuelle Geisteskrankheiten" und sammelte zur Illustration bizarre Fallstudien von Irren und Verbrechern.

KE brach mit der christlichen Tradition von Schuld und Sünde, nach der z.B. ein schwuler Mann aus freiem Willen andere Männer Frauen vorzieht. KE stellte dem eine Mischung aus Veranlagung und Degenerationstheorie entgegen, nach der die grundsätzliche sexuelle Ausrichtung nicht dem freien Willen unterliegt. Auf dieser Basis trat er für eine Entkriminalisierung der Homosexualität in den Fällen ein, in der sie Anlage sei - hingegen nicht in den Fällen, wo sie sexueller Experimentierfreude entsprang (Unterscheidung zwischen Perversion und Perversität).

Für Sadomasochisten hatte das Werk von KE Licht- und Schattenseiten. Einerseits wurde der Grundstein gelegt, sexuelle Veranlagung als solche zu begreifen, andererseits löste sich KE keineswegs von den Moralvorstellungen seiner Epoche, betrachtete also menschliches Sexualverhalten nicht alleine unter ethischen Gesichtspunkten. An vielen Stellen lässt er seiner Abscheu über die beobachteten Verhaltensweisen freien Lauf und brandmarkt auch vollkommen harmlose Fälle mit dem Sigel der Degeneration.
Es darf vermutet werden, daß die grosse Verbreitung seines Werkes dazu führte, daß Sadomasochisten sich nicht länger als vereinzelte Wesen betrachteten sondern aus seinem Buch ersehen konnten, daß es viele ihrer Sorte gab. Eventuell hat er so indirekt die Entwicklung der sadomasochistischen Subkultur gefördert.

Literaturhinweise:

1Dieser Literaturverweis ist noch ungültig.
  Wir arbeiten dran.
2 Krafft-Ebing, Richard von:
    Psychopathia sexualis. Mit besonderer Berücksichtigung der conträren Sexualempfindung. Eine medizinisch-gerichtliche Studie für Ärzte und Juristen.  [Details]
3 Wetzstein, Thomas A. / Steinmetz, Linda / Reis, Christa / Eckert, Roland:
    Sadomasochismus - Szenen und Rituale  [Details]

 

Auf diesen Eintrag verweisen: 120 Tage von Sodom, DSM, Fetischismus, Masochismus, Psychopathia Sexualis, Sacher-Masoch, Leopold von, Sadismus, Sadismus und Masochismus, Sartre, Jean-Paul, Trampling, Vampire, Vorurteile

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Stand: 01.12.2002.

 

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