Der Papiertiger: Legendenbildung |
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Der Papiertiger ist eine Enzyklopädie des Sadomasochismus, zusammengestellt von Datenschlag. Hier erklären wir Begriffe aus dem SM-Bereich und stellen sie in den Zusammenhang der sadomasochistischen Subkultur und ihrer Traditionen.
Um den Sadomasochismus haben sich diverse "moderne Sagen" herausgebildet, die teilweise von der sadomasochistischen Subkultur, teilweise eher von der nicht-sadomasochistischen Öffentlichkeit tradiert werden.
Ihnen ist gemeinsam, daß sie:
- schlecht überprüfbar sind, weil Personen vorkommen, die man nicht einfach fragen kann oder Folgen wie der Tod drohen.
- scheinbar plausibel sind, aber dennoch sehr aufregend klingen.
- von der erzählenden Person nie selbst verbürgt sind, es ist immer von Dritten die Rede
Beispiele hierfür:
- Sadomasochistische Geheimzirkel.
Sie sollen üblicherweise hauptsächlich von Politikern frequentiert werden, deren sadomasochistische Neigungen nicht in der Öffentlichkeit bekannt werden sollen. Daher existierten Geheimgesellschaften mit einer Größe von bis zu 700 Personen, zu denen Normalsterbliche keinen Zugang haben, die sich an wechselnden Orten treffen und bei denen (häufig) empfindliche Strafen für das Brechen der Anonymität vorgesehen sind.
Es ist zu vermuten, daß Politiker, hochgestellte Militärs und andere Personen des öffentlichen Lebens einer eventuell vorhandenen sadomasochistischen Neigung eher im Geheimen nachgehen, um nicht damit auf den Titelseiten der Boulevardpresse zu landen. Daher dürfte es wohl Zirkel geben, deren Teilnehmer die Existenz geheimhalten. Es ist allerdings höchst zweifelhaft, daß diese hunderte von Personen umfassen - SMart Rhein-Ruhr e.V. hat (2002) als grösster Verein der offenen Szene ungefähr 700 Mitglieder und Personen aus dem assoziierten Umfeld. Eine Geheimgesellschaft dieser Größe könnte sich niemals über einen längeren Zeitraum halten.
- Traditionsreiche, weltabgeschiedene europäische SM-Zirkel und Ausbildungshäuser.
Dieses Gerücht hat seinen Ursprung in den USA. Dort wurde in den Kreisen heterosexueller Sadomasochisten von Europa-Besuchern kolportiert, in Europa gäbe es BDSM-Einrichtungen ähnlich dem OWK (s. Eintr.: Other World Kingdom) mit Jahrhunderte zurückreichender Tradition. Im Gegensatz zum OWK, dessen Geschichte nur einige Jahre alt ist, seien diese Häuser auch sehr weltabgeschieden und nur Einheimischen vertraut, es gibt damit Parallelen zu dem Gerücht über "Sadomasochistische Geheimzirkel". Laut Berichten auf der "Leather History"-Mailingliste scheint es inzwischen (2002) in Grossbritannien angekommen zu sein - die "European houses" werden dabei dann in Kontinentaleuropa vermutet.
Hintergrund dieses Gerüchtes dürfte ein in den USA vorkommender Glaube an eine spezielle Form des "Euro-SM" sein, der als romantischer, geheimnisvoller und traditionsreicher gedacht wird als das, was aus dem eigenen Land bekannt ist. Die Wurzeln dieses Glaubens lassen sich unschwer auf die Geschichte der O, die Schriften des Marquis de Sade (s. Eintr.: de Sade, Marquis) und von Sacher-Masoch, Leopold von zurückverfolgen, deren Stimmung unkritisch auf das Europa der Gegenwart projiziert wird.
- Sadomasochismus als Managerdomäne.
Diese Legende darf in nahezu keinem Illustriertenartikel über SM fehlen. Demnach neigen Manager und Politiker überproportional häufig zum Masochismus und suchen nach der Arbeit regelmäßig Dominastudios auf.
Hier mischt sich Sozialneid auf die wohlhabenden Manager mit dem Gefühl der eigenen Überlegenheit, weil man "sowas" ja nicht nötig habe.
Hintergrund dieser Legende dürfte sein, daß natürlich Männer mit höherem Einkommen sich häufiger Studiobesuche leisten können als solche mit geringerem Einkommen, aber auf der anderen Seite weniger Freizeit haben, die sie dem Aufbau von Kontakten in die nichtkommerzielle Subkultur widmen könnten. Journalisten pflegen eher in der professionellen Szene zu recherchieren. Einziger bekannter Beleg ist das Buch "A Sexual Profile of Men in Power"1, deutsch "Die Mächtigen und der Sex"2, für das nur professionelle Dominas befragt wurden. Die Vermutung wurde jedoch bereits 1908 erstmals von Iwan Bloch in3 geäußert.
- Reflexartiger Herztod bei Atemkontrollspielen (Karotis-Sinus-Reflex).
Schon das leichte Berühren des Karotis-Sinus-Knotens an den Seiten des Halses könne auf vollkommen unvorhersehbare Weise den Tod durch Herzstillstand hervorrufen, weshalb man bei der Bondage diesen Bereich vollständig meiden müsse. Diese These wird in erster Linie innerhalb der SM-Subkultur tradiert und treibt dort mitunter die merkwürdigsten Blüten (hier wäre das Zitat aus Grimmes "Bondage-Handbuch" über den tödlichen "Carotis-Sinus-Venenreflex" schön). Aber auch in der englischsprachigen medizinischen Literatur hat diese Legende eine lange Geschichte, in der regelmäßig die Belege für die kolportierten Geschichten fehlen. Meist geht es dabei um einen Soldaten, der mit einem Mädchen tanzt und sie dabei spielerisch in den Hals kneift, woraufhin sie tot zu Boden sinkt. In der deutschsprachigen medizinischen Literatur spielt der Karotis-Sinus-Reflextod ohne Gewaltanwendung keine Rolle.
Mehr dazu (auf Englisch) unter Carotid sinus reflex death - a theory and its history.
- Tod durch Unterbinden der Hautatmung.
Angeblich drohe beim Spielen mit Flüssiglatex, Farben oder schon beim langen Tragen von Latexanzügen der Erstickungstod durch eine verminderte Hautatmung.
Diese Legende geht sehr stark auf den James Bond Film "Goldfinger" zurück, in dem der Erzschurke Goldfinger eine abtrünnige Geliebte dadurch tötet, daß er sie ganz vergolden lässt, was ihre Hautatmung unterbricht.
Im Gegensatz zu Amphibien ist beim Menschen die Hautatmung von ausgesprochen untergeordneter Bedeutung für die Sauerstoffaufnahme. Ein Mensch kann ohne weiteres seinen gesamten Sauerstoffbedarf durch Lungenatmung decken. Eine grossflächige Versiegelung der Haut kann zu Problemen durch Hitzschlag führen, wenn der Schweiß nicht mehr verdunsten kann - dies aber wohl nur, wenn man im Gummianzug Sport treiben würde. Farben können problematisch sein, wenn sie Chemikalien enthalten, die die Haut reizen.
- Reflektorische Erregung durch Schläge auf den Hintern
Schläge auf den Hintern rufen rein reflektorisch eine bessere Durchblutung der Genitalien und damit Erregung hervor. Diese These scheinen sich vor allem diejenigen zu eigen zu machen, die Schwierigkeiten haben, zu ihren SM-Interessen zu stehen. (Ob es medizinische Belege dafür gibt, ist uns derzeit unbekannt; hier wären ein paar Belege aus der Literatur schön.)
- In einem bestimmten Sternzeichen finden sich signifikant mehr Sadomasochisten als in den übrigen.
Hier wird häufig der Zwilling genannt, aber auch andere Sternzeichen kommen vor. Diese These scheint hauptsächlich von denjenigen vertreten zu werden, in deren SM-Umfeld ein bestimmtes Sternzeichen - nicht notwendigerweise immer das gleiche - gehäuft zu finden ist.
- Auf 20 männliche Masochisten kommt eine Frau.
Diese Legende wird ausschließlich außerhalb der SM-Subkultur tradiert und taucht in der Literatur wohl erstmals bei Louise Kaplan in4, deutsch5 auf, ohne dass dort eine Quelle angegeben wäre. In der Folge wird sie in der wissenschaftlichen Literatur vielfach zitiert. Wie Kaplan zu dieser Zahl gekommen ist, ist unbekannt. Alle bekannten Studien, in denen Fragen zu Frauen und Sadomasochismus gestellt wurden, widerlegen dieses Zahlenverhältnis. Ihren Reiz hat diese Legende für Mediziner und Psychiater vermutlich darin, dass sie sadomasochistische Vorlieben als eindeutig behandlungsbedürftig erscheinen lässt - zum einen kann dieser große Überhang männlicher Masochisten unmöglich passende Partnerinnen finden und sollte deshalb therapiert werden, zum anderen fällt es leichter, eine so ungleich verteilte Abweichung von der Norm als Krankheit zu klassifizieren.
Mehr Details unter Nackte Fakten für Zahlenfetischisten.
- Das Nagetier im Rektum.
Das Einführen lebender Nagetiere in den Anus stelle eine beliebte perverse Sexualpraktik dar. Eine Steigerung dieser Legende tauchte um 1993 als angebliche UIP-Meldung im Internet auf und lautete:
"In retrospect, lighting the match was my big mistake. But I was only trying to retrieve the gerbil," Eric Tomaszewski told bemused doctors in the Severe Burns Unit of Salt Lake City Hospital. Tomasszewski, and his homosexual partner Andrew "Kiki" Farnum, had been admitted for emergency treatment after a felching session had gone seriously wrong. "I pushed a cardboard tube up his rectum and slipped Raggot, our gerbil, in," he explained. "As usual, Kiki shouted out 'Armageddon', my cue that he'd had enough. I tried to retrieve Raggot but he wouldn't come out again, so I peered into the tube and struck a match, thinking the light might attract him." At a hushed press conference a hospital spokesperson described what happened next.
"The match ignited a pocket of intestinal gas and a flame shot out the tubing, igniting Mr. Tomaszewski's hair and severely burning his face. It also set fire to the gerbil's fur and whiskers which in turn ignited a larger pocket of gas further up the intestine, propelling the rodent out like a cannonball." Tomaszewski suffered second degree burns and a broken nose from the impact of the gerbil, while Farnum suffered first and second degree burns to his anus and lower intestinal tract.
Da der Gerbil in Deutschland weniger bekannt ist, wird die Legende hier zumeist mit einem Hamster kolportiert. Tatsächlich gibt es zwar zahllose medizinische Berichte über aus dem Rektum von Patienten entfernte Objekte, jedoch keinen, in dem ein lebendes oder totes Nagetier die Hauptrolle spielt. Fast immer wird diese Legende Homosexuellen zugeschrieben, um so zu demonstrieren, wie skrupellos und abstoßend deren Sexualpraktiken sind.
Mehr Informationen finden sich im "Urban Legends Archive" unter Gerbilling.
Literaturhinweise:
1 Janus, Sam / Bess, Barbara / Saltus, Carol:
A Sexual Profile of Men in Power [Details]
2 Janus, Sam / Bess, Barbara / Saltus, Carol:
Die Mächtigen und der Sex [Details]
3 Bloch, Iwan:
Das Sexualleben unserer Zeit [Details]
4 Kaplan, Louise:
Female Perversions [Details]
5 Kaplan, Louise J.:
Weibliche Perversionen. Von befleckter Unschuld und verweigerter Unterwerfung. [Details]
Synonyme: Geheimzirkel, Gerbil, Hamster, Hautatmung, Sternzeichen
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Stand: 09.04.2003.
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