Nächste Seite: Schlußwort Aufwärts: Einwilligung Vorherige Seite: Allgemeines   Inhalt

 

 

Gute Sitten - was ist das?

Es ist also bei der Frage, ob eine Verletzung oder Gefährdung der körperlichen Sicherheit bei gegenseitigen einverständlichen sadomasochistischen Praktiken ein von staatlicher Seite zu verfolgendes und zu bestrafendes Unrecht oder lediglich eine straflose Sexualpraktik darstellt, nicht nur auf die strafbarkeitausschließende Einwilligung, sondern auch auf das Sittenwidrigkeitskorrektiv und der damit verbundenen Interpretation der "guten Sitten" abzustellen.

Eine solche objektive Prüfung der Erwünschtheit des (mit Einwilligung des Verletzten vorgenommenen) Eingriffs erfolgt ausschließlich im Anwendungsbereich des § 90 Abs 1 im österreichischen Strafrecht in Form des Sittenwidrigkeitskorrektivs. Eine solche allgemein gehaltene Aussage ("... als solche nicht gegen die Guten Sitten verstößt.") ist aber ebenso bequem wie gefährlich, da sie dem speziellen Rechtssatz ergänzend zur Seite stehen, ihn aber auch außer Kraft setzten kann.

Im allgemeinen gesagt, gibt sie dem Richter das ius supplendi, corrigendi und räumt ihm hierdurch eine schier unfaßbare Macht ein, indem sie die richterliche Gebundenheit an das Gesetz und damit an die Rechtssicherheit großteils wieder aufhebt. Diese solcherart gestaltete Generalklausel enthielt sich weithin der Berechenbarkeit für den Täter, weil nicht das Gesetz selbst sondern letztlich das Gericht am Ende entscheidet, was den jetzt wirklich gegen die (vom Gericht post factum wie auch immer verstandenen) guten Sitten verstößt. Es kann das urteilende Gericht auch nur so entscheiden, wie es dies versteht.2.47 Damit wird klar, daß es immer vom urteilenden Richter abhängt.

Ein Tennis spielender Richter wird in favour für den Tennis spielenden Angeklagten entscheiden, da er ihn versteht; einer der gerne schnell mit dem Auto fährt, wird eher Sympathie für einen Raser empfinden als ein radfahrender Richter oder ein der Minderheit der SM-Szene zugehöriger Richter vielleicht auch zugunsten des Beschuldigten auf diesem Gebiet. (Sofern er nicht befürchten muß, sich dabei selbst zu outen und dadurch einen "schlechten Ruf" zu bekommen!)

Aber was versteht man unter den "guten Sitten" denn jetzt wirklich? Es muß bemerkt werden, daß die Sittenwidrigkeit im Strafrecht genau wie im Zivilrecht zu definieren ist, daß es aber auch zweifellos kriminell strafwürdiges Unrecht sein muß, was wiederum bedeutet, daß nur das strafwürdiges Unrecht sein kann, das explizit gegen ein Gesetz verstößt. Andernfalls würde die Bestrafung einer nicht gegen ein Gesetz verstoßenden Tat vom allgemeinen Rechtsgrundsatz des § 1 StGB "nullum crimen sine lege" und "nulla poena sine lege" abgehen und das ganze gesatzte Strafrecht ad absurdum führen.

Die vorherrschende Meinung versteht die Wendung wörtlich. Sie nennt die guten Sitten das, was gegen die Moral, gegen das sittliche Volksbewußtsein verstößt, wobei es sich hier nicht um reine Ethik, nicht um Moralsätze, die als Ideal gelehrt werden, handelt, sondern um die im Volksbewußtsein lebende und sich äußernde Ethik, um die tatsächliche Durchschnittsanschauung, also um das, was dem jederzeit herrschenden Volksbewußtsein, dem Anstandsgefühl und dem gesunden Rechtsempfinden aller billig und gerecht Denkenden entspricht und demgemäß auch fortwährendem Wechsel unterworfen ist.2.48 Es geht um die Konkretisierung von herrschenden Wertmaßstäben, die in der Rechtsordnung selbst angelegt sind.

Wer aber nun die "billig und gerecht Denkenden" sind, was "zweifellos kriminelles Unrecht" ist und wie das "gesunde Rechtsempfinden, das Anstandsgefühl" zu verstehen ist, bleibt im Dunkeln. Das Gericht muß nunmehr ein selbständiges richterliches Werturteil finden und versuchen, einen Mittelweg für alle billig und gerecht Denkenden zu bestimmen. Dies ist geradezu unmöglich. Es bleibt nur herauszufinden, was im konkreten Einzelfall billig und gerecht ist.

Einigkeit herrscht eigentlich nur darüber, daß es nicht auf die Sittenwidrigkeit der Einwilligung, sondern allein auf die Sittenwidrigkeit der vom Einwilligenden gestatteten Körperverletzung oder Gefährdung ankommt. Im Hinblick auf Täter (M) und Opfer (S) gesehen ist nach Lehre und Rechtsprechung daher im Rahmen der eingetretenen Verletzung oder Gefährdung - dies gilt dann wohl auch bei sadomasochistischen Handlungen - vor allem auch der Zweck und das Motiv der Beteiligten mit zu berücksichtigen,2.49 also ganz global auch die Ziele und Beweggründe der am Zustandekommen Beteiligten, die Art der angewendeten Mittel sowie überhaupt alle Begleitumstände der konkreten Tat.2.50 Dabei darf man aber nicht zu enge Maßstäbe anlegen, dh man muß immer noch die allgemeinen Begriffe von Anstand und Moral beachten, ansonsten ja jede Tat im Einzelfall beurteilt, niemals gegen die guten Sitten verstoßen könnte.

Ein wichtiger Maßstab um bei der Lösung des Problems voranzukommen ist - wie schon weiter oben erwähnt - das Abstellen auf die Art und Schwere der Tat, auf die Sozialwidrigkeit an sich, wo also der freiwillige Rechtsschutzverzicht mit berechtigten Interessen der Gemeinschaft kollidiert. Ist also die zugefügte Verletzung zwar "nicht unbeträchtlich", aber auch "noch nicht schwer", bedarf es handfester Begründungen um die Sittenwidrigkeit der Tat außer Zweifel zu stellen. Es genügt auf keinen Fall der Hinweis auf das Fehlen eines allgemein verständlichen oder gar wertorientierten Tatmotivs2.51, da sich wiederum die Frage stellt was, denn darunter zu verstehen sei und wie "hoch die Meßlatte" zu liegen habe, um den Maßstab aller billig und gerecht Denkenden erreichen zu können.


Nächste Seite: Schlußwort Aufwärts: Einwilligung Vorherige Seite: Allgemeines   Inhalt

2000-10-19