déchirante“, die sich dann psychologisch verfeinert in dem „pathologischen Egotismus“, dem „Beylismus“ Stendhals1) durchzusetzen weiss, dessen neu auflebender Einfluss sich in einem grossen Teile unserer modernsten, vor allem der französischen Literatur nur zu deutlich bekundet - wo diese Richtung, wie schon bei dem ewig mit seinen Nerven beschäftigten, sich selbst als „Ungeheuer an nervöser Reizbarkeit“ bezeichnenden Stendhal, mehr und mehr ins direkt Krankhafte, in die „reizbare Schwäche“ und die Perversionen des Sexual-Neurasthenikers ausmündet. So geschieht es auch schon bei Rétif, dem Begründer und Bahnbrecher des analysierenden Romans dieser Richtung, der übrigens nebenbei Fetischist (leidenschaftlicher Fuss-Fetischist) war. Es ist wohl kein blosser Zufall, dass er früher als andere Zeitgenossen auf de Sade aufmerksam wurde und dass dessen halb mit eifersüchtigem Neid, halb mit Abscheu betrachtetes Werk ihn zu seiner elend geschriebenen „Anti-Justine“ anregte, die er freilich selbst nicht zu beenden und deren mitten in einem Satz abbrechende erste Hälfte er nur unter einem Pseudonym (Linguet) herauszugeben wagte2).

Es bleibt nun noch eine letzte, den Psychologen und Arzt interessierende Frage zu erledigen: die Frage nach dem Geisteszustande des Autors von „Justine“ und „Juliette“. Gehen wir noch einmal von den Werken aus und sehen wir dabei zunächst ab von der Abscheulichkeit des Inhalts, von den Gefühlen der Indignation, des Ekels, die uns beim Durchblättern dieser stattlichen Bändezahl von Seite zu Seite erfüllen. Unwillkürlich imponierend wirkt trotzdem schon der blosse Umfang des Werkes und das Mass der damit geleisteten geistigen und der rein mechanischen Arbeit. Der bizarre Entwurf dieser ungeheuerlichen, langgedehnten, vielgliedrigen Komposition und seine bis ins einzelne gehende Ausgestaltung mit all ihren fast unentwirrbaren Fäden, mit der Unzahl der nacheinander auftretenden Personen, mit der sehr raffiniert durchgeführten allmählichen Steigerung und mit der fast nie - nur ganz vereinzelt3) - versagenden


1)Stendhal (Henri Beyle) journal; vie de Henri Brulard; souvenirs d’égotisme usw. - Deutsche Stendhal-Ausgabe in sechs Bänden neuerdings von Fr. von Oppeln-Bronikowski.

2)L’Anti-Justine, ou les délices de l’amour, par M. Linguet, avocat au et en Parlement, au Palais-Royal, chez feu la veuve Girouard, 1798. Eine neue Ausgabe (nach einer Abschrift des Manuskriptes) erschien in Brüssel, in zwei Bänden, 1863. Vgl. übrigens das grosszügig angelegte Werk: „Rétif de la Bretonne. Der Mensch, der Schriftsteller, der Reformator“ von Dr. Eugen Dühren (Iwan Bloch), Berlin 1906, mit dessen Hochschätzung Rétifs in jeder der drei Titelbezeichnungen ich allerdings nicht übereinstimme.

e)Einmal, im vierten Bande der Justine, lebt eine Person wieder auf, die kurz zuvor bei einer Orgie ums Leben gebracht war. - In den flüchtig gearbeiteten 120 journées de Sodome begegnen allerlei Unstimmigkeiten und Widersprüche allerdings ziemlich häufig.

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