Treue der Erinnerung und Rückbeziehung: das alles setzt doch eine wenigstens in den Jahren der Abfassung ganz ungemeine Arbeitskraft und ausdauernde Arbeitsleistung voraus, die mindestens die herkömmliche Meinung einem chronischen Geisteskranken, vielleicht einem kongenital Schwachsinnigen, nicht ohne weiteres zuzugestehen geneigt sein dürfte. Wenn es wahr sein sollte, dass de Sade sein Werk eine Zeitlang in einem Keller eigenhändig gedruckt, dass er auch die Entwürfe zu den Zeichnungen selbst angefertigt habe, so würde unser Staunen über die Ausdauer und vielseitige Leistungsfälligkeit noch mehr berechtigt erscheinen. Einem Maniakus sind freilich solche Leistungen keineswegs unmöglich; und wenn man die ungeheuere graphomanische Tätigkeit mancher Kranken in den manischen Stadien zirkulären Irreseins überblickt, so wird man auch in dieser Hinsicht einen minder zweifelnden Standpunkt einzunehmen geneigt sein.

Stellen wir einmal die Frage rein gerichtsärztlieh, etwa in der Weise: gesetzt, der Verfasser von Justine und Juliette wäre nach der ersten Gesamtausgabe von 1797, auf Grund einer antizipierten (und in diesem Falle gewiss wohlberechtigten) Lex Heinze, unter Anklage gestellt worden; sein Verteidiger hätte den Einwand mangelnder Zurechnungsfähigkeit erhoben und der Gerichtshof hätte, dem Antrage des Verteidigers stattgebend, die Zuziehung ärztlicher Sachverständigen beschlossen; wie würden sich diese Sachverständigen wohl zu äussern gehabt, in welchem Sinne würden sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, ihr Gutachten erstattet haben.

Wie sie zu de Sades Zeit sich vermutlich geäussert hätten, das lehrt uns das schon erwähnte Beispiel des ausgezeichneten Irrenarztes Royer-Collard, des ärztlichen Direktors von Charenton, der de Sade fast zwölf Jahre hindurch in dieser Anstalt beobachtete und während dieser ganzen Zeit nicht müde wurde, in immer wiederkehrenden Reklamationen bei der Regierung seine Entfernung zu beantragen und gegen seinen fortgesetzten Aufenthalt zu protestieren. Aber auch die Irrenärzte unserer Zeit würden, wie ich glaube, der Mehrzahl nach sich kaum in der Lage befunden haben, de Sade vor dem Strafrichter für geisteskrank und „der freien Willensbestimmung beraubt“ zu erklären und ihn der unzweifelhaften gerichtlichen Verurteilung damit zu entziehen.

Es lag zwischen jener Zeit und der unseligen eine Periode, in der man vermutlich mit der Annahme einer eigenartigen geistigen Störung, die unter dem Namen der „moral insanity“ eine grosse Rolle spielte, sehr rasch bei der Hand gewesen sein würde. Dieser von Prichard (1835) geprägte Ausdruck - der die früheren Bezeichnungen einer „Mania sine delirio“ (Pinel), einer „Monomanie affective“ (Esquirol) vollständig verdrängte - sollte einer Form der Seelen-

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