gegebenen; de Sade hat nur, skrupelloser als ein Diderot, skrupelloser selbst als Lamettrie, die äussersten Konsequenzen des theoretischen und natürlich auch des praktischen Materialismus auf seine Weise gezogen. Ganz wie seine Zeitgenossen hängt er dabei an der altdemokritischen korpuskularen Theorie der Materie, mit ihren räumlich getrennten, überall gleichartigen Teilchen (Molekeln), durch deren Bewegung und Stoss alle Phänomene des körperlichen und geistigen Lebens in einer für ihn und seinesgleichen restlos befriedigenden Weise erklärt werden; die „molécules malfaisantes“ spielen denn auch bei seinen antimoralischen Explikationen eine hervorragende Rolle. Die klägliche Öde einer solchen Weltanschauung wird nur durch die brutale Selbstgewissheit, mit der sie vorgetragen und als keines Beweises bedürftig hingestellt wird, allenfalls überboten.

Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass auch Verbindungsfäden von de Sade zu gewissen zeitgenössischen Vertretern einer analytischen Richtung der Psychologie hinüberführen, die von Max Dessoir1) in seiner beachtenswerten Geschichte der neueren deutschen Psychologie als subjektivistische Analytiker zusammengefasst wurden. Für den psychologischen Roman, der auf subjektivistischer Analyse des Seelenlebens beruht, hatte bekanntlich Rousseau in seiner Novelle Héloise den Ton angegeben - derselbe Rousseau, der in seinen Confessions einen Akt des moralischen Exhibitionismus verübt und dabei selbst vor der Enthüllung direkt exhibitionistischer Neigungen nicht zurückscheut. Einem de Sade unendlich näher als die trotz allem grosse und ergreifende Gestalt Rousseaus steht jener „Rousseau du ruisseau“, Rétif de la Bretonne, über den Dessoir urteilt: „Er wurde von wütendster Sinnlichkeit gepeitscht und durch den Götzendienst des eigenen Ich in eine Art Exhibitionismus hineingetrieben. Daher hat er wie kein Zweiter verstanden, die Entstehung, Eigentümlichkeit und Gewalt der Geschlechtsliebe zu analysieren und dem Ich einen geradezu raffinierten Kultus zu widmen. „Da haben wir im Keime (den literarischen de Sade, nur schwächlicher, passiver, sozusagen unblutiger. Wäre Rétif eine mehr aktiv und impulsiv, weniger kontemplativ veranlagte Natur gewesen und hätten ihm, dem armen Bauernsohne, die Mittel und die Atmosphäre des „célèbre Marquis“ von früh auf zur Verfügung gestanden, so wäre vielleicht ein zweiter de Sade aus ihm geworden, der schriftstellerisch dem anderen an Kraft und Feinfühligkeit der Schilderung überlegen gewesen wäre. Nicht umsonst ertönt bei Rétif aus allen Tonarten das Lob dieser ungemeinen Feinfühligkeit, dieser „sensibilité quelquefois délicieuse, quelquefois cuisante, affreuse,


1)Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Zweite Auflage. Erster Halbband. Berlin, Karl Duncker, 1897, S. 301 ff.

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