als „Theoretiker“, gewissermassen als „Systematiker des pathologischen Sexuallebens“ abstempeln wollen, dem es schon hundert Jahre vor Krafft-Ebing darum zu tun gewesen sei, „einen wissenschaftlichen Einblick in die Ursachen und die Arten der mannigfaltigen sexuellen Ausartungen zu gewinnen“ und der sich auch über diese wissenschaftliche Bedeutung einer solchen Einsicht völlig klar gewesen sei. So kämen wir gar schliesslich noch dahin, in dem vielverlästerten „célèbre marquis“ den eigentlichen Begründer und Schöpfer einer wissenschaftlichen Sexologie in dankbarer Anerkennung zu verehren. Gegen eine solche Um- und Überwertung möchte ich doch Protest einlegen; auch haben derartige Gesichtspunkte wohl dem von keiner „wissenschaftlichen“ Betrachtung und Schulung angekränkelten, stets ins masslos Phantastische, zuchtlos überschweifenden Geiste de Sades gänzlich fern gelegen, wenn man auch anerkennen muss, dass die 120 journées, trotz ihrer Unvollendetheit und der Flüchtigkeit ihrer Anlage und Durchführung, in bezug auf erschöpfende und lückenlose Vorführung aller nicht nur erfahrungsgemäss festgestellten, sondern überhaupt denk- und ersinnbaren, von den leichtesten bis ins Ungeheuerliche aufsteigenden geschlechtlichen Verirrungen bisher unerreicht und fast unvergleichbar dastehen. Aber auch die schriftstellerischen Mängel de Sades, die flüchtige und verwahrloste Schreibweise, die Krassheit und Unmöglichkeit der Erfindung, die Rohheit und Brutalität der psychologischen Durchführung - von dem Abstossenden des Stoffes ganz abgesehen - erscheinen hier auf die Spitze getrieben und lassen die immerhin subtilere Durcharbeitung von „Justine et Juliette“ doch bedenklich vermissen.

Über die übrigen Schriften de Sades kann ich mich kurz fassen, da sie - so weit sie ihm mit Sicherheit zugehören - nicht geeignet sind, uns die Befähigung und geistige Eigenart ihres Verfassers von anderer und besserer Seite kennen zu lehren. Am meisten der Erwähnung wert ist noch La philosophie dans le boudoir; in der in meinem Besitz befindlichen Ausgabe mit der Bezeichnung: „ouvrage posthume par l’auteur de Justine“, Londres aux dépenses de la compagnie 1805 (in zwei Bänden). Da de Sade zur Zeit des Druckes noch am Leben war, muss der Ausdruck „posthume“ der Unkenntnis oder absichtlichen Irreführung entspringen. Das Buch ist ein verwässerter, geistloser Abklatsch der in Justine und Juliette entwickelten Lehren, ungewandt auf die „Erziehung“ eines unerfahrenen jungen Mädchens; es berührt sich somit im Stoffe merkwürdig mit der Mirabeau zugeschriebenen „Education de Laure“, wie ja auch andere literarische Jugendsünden des vielbewunderten Revolutionhelden, wie „Ma conversion“ und „Erotica biblion“ des sadischen Geistes einen recht starken Hauch verspüren lassen. Mirabeau, der in einem noch erhaltenen Briefe gegen jede Gemeinschaft mit de Sade entrüstet protestiert und diesen Autor, falls er es wagen sollte, sich auf ihn zu beziehen, mit Stockhieben bedroht, kann sich demnach, wie auch andere Revolutionsmänner - ich erinnere nur an Saint-Just und Marat -, dem Verdachte einer gewissen Geistesgenossenschaft nicht gänzlich entziehen.

„Aline et Valcour, ou le roman philosophique“, ein Buch, das de Sade vor der Revolution während seines Aufenthaltes in der Bastille geschrieben haben soll

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