Der Text ist aus folgenden Gründen eigentlich deutlich überholt:
Er bleibt bis auf weiteres dennoch online
Heute schon gefragt worden, ob es wahr ist, dass Masochisten kein Selbstvertrauen haben oder Sadisten kleine Kinder mit Senf essen? Und habt Ihr Euch, wie so oft, den Mund mit Begriffen wie Freiwilligkeit und Sicherheit fusselig geredet - worauf Euer Gegenüber nur gefragt hat, was denn die Ärzteschaft zum ach-so-freiwilligen Sadomasochismus sagt? Und ihr nur mit den Zähnen knirschen konntet?
Behaltet diese Augenblicke gut im Gedächtnis: Sie sollten bald Seltenheitswert haben. Denn ab jetzt können wir mit Ärzten und Diagnosekriterien kontern, und kaltlächelnd sagen: Wir sind keine Sadisten. Oder: Masochisten? Wer redet hier von Masochisten? . Was wir danach sagen, nun, darauf müssen wir uns noch einigen, und zwar schnell, aber eins ist klar: pervers müssen wir uns von Niemanden mehr nennen lassen.
Nun enthält DSM-IV unter dem Kapitel "Paraphilien" (das höfliche medizinische Wort für "Perversionen ") nach alter Sitte die Diagnosekriterien für Sexuellen Sadismus (Code 302.84) und Sexuellen Masochismus (Code 302.83). Beide sind, wie eh und je seit Krafft-Ebing, streng getrennt, und nach wie vor gelten Leute, die die Kriterien dafür erfüllen, als krank. In dieser Hinsicht ist DSM-IV nicht anders als seine Vorgänger.
Aber, und dieses "aber" ist groß, die Kriterien selbst haben sich geändert. Es gibt für Masochismus wie für Sadismus deren zwei: Ein "A" Kriterium und ein "B" Kriterium. Beide müssen erfüllt sein, damit die Diagnose sexueller Sadismus bzw. sexueller Masochismus gestellt werden darf.
Einmal muss man sexuell erregende Phantasien, sexuelle Neigungen, oder Verhaltensweisen haben, die damit zu tun haben, den Mitmenschen zu peinigen (für die Sadisten) oder gepeinigt zu werden (für die Masochisten). Das ist das A-Kriterium. Nun, unzweifelhaft trifft das auf uns zu. Wir können uns also kaum davon freisprechen, "A-positiv" zu sein.
Das B-Kriterium ist die eigentliche Neuerung. Diese Phantasien, Neigungen oder Verhaltensweisen müssen nämlich in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen beim Patienten hervorrufen. Das B-Kriterium ist für beide Diagnosen gleich. Das sollten wir uns genauer angucken.Leiden heißt zum Beispiel, dass man so unzufrieden mit seiner Neigung ist, dass man sie loswerden möchte. Auch wenn es hin und wieder Leute gibt, auf die das zutrifft, ist es eine anerkannte Eigenschaft besonders der subkulturell organisierten Sadomasochisten, dass sie eine "hohe Selbstakzeptanz" haben. Weinberg [2] und Wetzstein [3], um nur zwei der neusten Arbeiten zu nennen, liefern genügend Belege dafür, um das selbst gegenüber anderen Wissenschaftlern verteidigen zu können. Dort finden wir auch die formelle Unterstützung für etwas, was als unsere "auffällige Unauffälligkeit" bezeichnet wurde: Wir kommen so gut mit unserer Umwelt zurecht, dass man uns gar nicht unsere Neigung anmerkt, wenn wir es nicht wollen. Von einer Beeinträchtigung kann, wie wir schon immer gewusst haben, gar keine Rede sein.
Sprich, wir sind B-negativ. Und damit seit Mai 1994 offiziell nicht mehr krank. Allerdings sind wir auch keine Sadisten oder Masochisten mehr...
Und es gibt uns eine ganz neu Möglichkeit, Diskussionen im Vorfeld aus dem Weg zu gehen mit Hilfe der wunderbaren Aikido-Strategie. Aikido ist eine Kampfsportart, wo man Gewalt nicht mit Gewalt begegnet (was man gerade von uns ja erwarten würde), sondern die Energie des Angreifers gegen ihn nutzt - sprich, einen Schritt zurücktritt und zuschaut, wie er auf die Nase fällt. Wenn das nächste Mal sich jemand vor einem aufbaut und einen der vielen Sprüche über frauenschlagende Sadisten oder winselnde Masochisten ablässt, muss man gar nicht darauf eingehen. DSM-IV gibt uns die Möglichkeit, ihn ruhig reden zu lassen, ihm zuzustimmen , dass das alles sehr interessant sei - und ihn dann lächelnd zu fragen, warum er denn auf die Idee kommen würde, es hätte etwas mit uns zu tun? Wenn die nächste EMMA-Emanze einem vorwerfen will, dass Sadisten auch Kinder schlagen würden, kann man mit den Schultern zucken und sagen, gut möglich - über Sadisten wisse man nichts. Und wenn man vom Dorf-Chauvi gefragt wird, ob es nicht doch wirklich so wäre, dass alle Frauen Masochistinnen wären, kann man wahrheitsgetreu sagen, dass man das nicht wisse - man kenne gar keine Masochistinnen.
Damit hat man den Leuten ohne Geschrei erklärt, dass sie vom Thema eigentlich keine Ahnung - ob sie es begreifen, ist natürlich eine andere Sache. Der Kern bleibt: Die Öffentlichkeit kann weiter alle ihre Vorurteile auf die Sadisten und Masochisten dieser Welt aufhäufen, während wir lächelnd mit DSM-IV in der Hand daneben stehen und darauf hinweisen, dass wir uns nicht im geringsten angesprochen fühlen müssen. Es wird etwas dauern, bis sich das auch nur unter uns herumgesprochen hat, aber deswegen wurde auch dieser Text geschrieben.
Tatsächlich, und darum geht es in dem restlichen Text, hat uns DSM-IV etwas mit heruntergelassenen Hosen erwischt. Wir waren so beschäftigt damit zu erklären, dass wir nicht krank sind, dass wir keine sonderliche Alternative anzubieten haben, wo dieser Zustand wahr geworden ist. Viele werden die Große Befreiung auch nicht auf diese Art erwartet haben, sondern eher so , dass wir, wie bei den Homosexuellen, ganz aus DSM herausgenommen werden würden.
Realistisch war das nie, und jetzt haben wir erst recht nicht die Zeit oder die Ressourcen, uns das einzubilden. Warum es im DSM immer die eine andere Form von Sadismus und Masochismus als Krankheitsbegriffe geben wird, hat viele Gründe. Drei der Wichtigsten sind:
Erstens: Diagnosen werden nach festen Regeln und Verfahren in DSM aufgenommen und gestrichen. Pincus [6] beschreibt den Prozess ganz genau. Ganz oben auf der Liste der wichtigsten Kriterien steht dieTradition . Seit 110 Jahren, als Krafft-Ebing und Freud sich zusammentaten, um uns das Leben schwer zu machen, diagnostizieren Ärzte nun Sadismus und Masochismus als psychiatrische Erkrankungen, und allein deswegen wird es diese Diagnose weiter geben. Darüber kann man den Kopf schütteln wie man will - gar nicht auszudenken, wenn die Chirurgie nach einem ähnlichen Verfahren vorgehen würde - aber das ist nun mal die offizielle Linie der American Psychiatric Association, und dieser Teil des Spiels wird nach ihren Regeln gespielt.
Zweitens: Die Begriffe des Sadismus und Masochismus sind für die Psychoanalyse von zentraler Bedeutung. Auch wenn die Psychoanalyse, besonders die klassische Freudsche, immer mehr Züge einer sterbenden Religion als einer lebendigen Wissenschaft annimmt, ist der Einfluss der Psychoanalytiker noch groß genug, um zu unseren Lebzeiten einen solchen Umbruch undenkbar zu machen. Es gilt der Spruch, dass alte Theorien nie aussterben, nur alte Theoretiker...
Drittens: Es gibt tatsächlich Leute, die das B-Kriterium erfüllen. Bei unseren Versuchen, allen klar zu machen, dass wir keine Kettensägenmörder sind, haben wir Schafe im Wolfspelz manchmal etwas aus den Augen verloren, dass es auch wirkliche Wölfe gibt. Einige von Krafft-Ebings Fälle waren wirklich und auch nach heutigen Maßstäben schwer krank, um nicht zu sagen, mordsgefährlich. Es wird auch weiter eine Kategorie für sie geben müssen, einfach weil die Welt kein netter Ort ist.
Wir sollten uns also an den Gedanken gewöhnen, dass es weiter die Begriffe Sadist und Masochist als medizinische Diagnosen für medizinische Krankheiten geben wird. Sicherlich ist das nicht die ideale Situation, aber eine bessere werden wir nicht kriegen. Es kann Jahrzehnte dauern, bis DSM-V auch nur ansatzweise in Angriff genommen wird.
Nachdem man uns nach 110 Jahren endlich aus den heiligen Hallen der Medizin entlassen hat, brauchen wir eine neu Bleibe. Und wir sollten möglichst schnell eine finden, bevor irgend jemand merkt, dass wir auf der Straße herumlungern, und uns wieder irgendwo einquartieren will, wo wir gar nicht wohnen wollen. Man mag nämlich kaum glauben, dass die Herren und Damen Psychiater wirklich wissen, was sie da getan haben...
Unser Problem besteht also darin, uns möglichst schnell, begründbar und einheitlich eine Identität zu verpassen.
Wer jetzt verstört mit dem Kopf schüttelt muss sich klar machen, dass es hier nur um das Auftreten in der Öffentlichkeit geht. Eine eigene Sprache in unserer Subkultur steht uns zu, und man wird uns keinen Strick daraus drehen, wenn wir uns untereinander weiterhin als Sadist (oder S oder Top oder O oder was auch immer) bezeichnen. Es geht darum, nicht wie bisher glücklich in die Kameras von RTL und Pro7 zu trällern, dass man ein Sadist sei, oder - Gott bewahre - gar ein "echter" Sadist. Sondern darum, dass wir keine Sadisten und keine Masochisten sind, sondern die armen Leute, die bisher fälschlicherweise zu diesen bösen Menschen in eine Schublade gesteckt wurden.
Das ist sozusagen das absolute Minimalprogramm, das eigentlich schon seit Mai 1994 hätte anlaufen sollen. Jeder von uns, der Kontakt mit der Öffentlichkeit in irgendeiner Form hat, sollte wie aus der Pistole geschossen vortragen können, dass er kein Sadist und kein Masochist sei: Sadismus und Masochismus seien psychiatrische Erkrankungen, dessen Diagnosekritieren streng definiert seien und hier nachweislich und eindeutig nicht zutreffen. Das Zauberwort DSM-IV kann auch ruhig fallen. Wer unbedingt in der Öffentlichkeit von seiner Rollenverteilung plaudern will, soll nicht von Sadist oder Masochist sprechen, sondern bitteschön von Top und Bottom reden, notfalls auch von S und M - auch wenn letzteres eh wieder von 90% der Zuhörer zu Sadist und Masochist ergänzt werden wird.
Hauptsache, wir machen deutlich, dass wir jetzt absolut nicht mehr in den Raum mit den Kinderschändern und Triebtätern gehören.
Und nach der ganzen Vorrede über die Notwendigkeit einer Abgrenzung bleibt deprimierenderweise nur ein Name übrig, den wir realistisch annehmen können: Sadomasochisten - den gleichen, den die meisten von uns ohnehin schon instinktiv für sich beanspruchen. Das ist vielleicht etwas antiklimaktisch, und manch einer wird die Versuchung versprühren, etwas anderes auf die Beine zu stellen. Aber es gibt eine Reihe von Gründen, warum eigentlich nur Sadomasochismus eine realistische Chance hat, sich durchzusetzen:
Das wird zum Glück nicht so schwer.
Man muss sich klar machen, dass diese Spaltung von Anfang an eine medizinische Form des divide and conquer darstellte. Ganz abgesehen davon, dass man eine gespaltene, uneinige Gruppe einfacher kontrollieren und handlungsunfähig halten kann - das politische divide and conquer , auf das Dominguez hingewiesen hat [9] - ist sie das Herz jeder Begründung einer Therapiebedürftigkeit gewesen. Wie offensichtlich ist es doch, dass jemand, der sein Leben lang quält, gefährlich ist - und Hilfe braucht. Wie deutlich, dass jemand, der sich immer quälen lässt, eine Gefahr für sich selbst ist - und Hilfe braucht. Der eine ist menschenfeindlich dominierend, der andere durch seine Unterwürfigkeit kaum lebensfähig. Dieses "Duale System" hat automatisch dafür gesorgt, dass wir auf hundert verschiedene Arten hilfsbedürftig, und, ja, therapiebedürftig ausgesehen haben. Und die Karikaturen, zu denen uns diese Trennung gemacht hat, existieren so lange weiter, wie die Trennung selbst aufrecht gehalten wird.
Das öffentliche Bild des Sadisten lässt sich nicht mit dem Bild des Masochisten zur Deckung bringen. Zu extrem sind die Gegensätze, zu lange sind sie als sich gegenseitig ausschließend dargestellt worden. Genau dieses Bestehen auf einem entweder-oder durch die Mediziner, wie es auch noch in DSM-IV vorhanden ist, ist der Grund, warum der Begriff des Sadomasochisten so mächtig ist. In dem Moment, wo man die Schubladen nicht mehr akzeptiert, und sich nicht trennen lässt - nicht in seiner Seele, nicht von seinem Partner, nicht von anderen seiner Art - haben die Theorien von Krafft-Ebing und Freud und all ihren Schülern keinen Ansatzpunkt mehr.
Auch die Homosexuellen hat man lange Zeit versucht zu spalten, oder, wie es höflich formuliert wurde, zu "analysieren". Von "aktiven" und "passiven" Homosexuellen war da die Rede, von "gebundenen", "abstinenten" und "ungebundenen" Verläufen des "Homosexuellen Syndroms" [12]. Die Homosexuellen haben konsequent und entschieden jede Spaltung als Quatsch abgelehnt, auch wenn sie untereinander jede Menge Vorlieben und Neigungen anerkennen. Nach außen hin haben sie sich immer nur als Homosexuelle dargestellt, und sind als geeinte Gruppe aus der Ecke der sexuell Kranken heraus zur sexuellen Minderheit marschiert.
Dass wir gespalten auf die Bildfläche geworfen wurden, heißt nicht, dass wir nicht endlich zusammenfügen können, was zusammen gehört.
Auch hier haben wir Schützenhilfe ohne Ende von den Wissenschaftlern selbst, haben also wieder eine Position, die wir auch auf ihrem Boden verteidigen können. In 1987 fand Moser [13], dass nur 16% der Befragten ausschließlich als Top oder Bottom agierten. Wetzstein [3] fand eine ähnliche Verteilung für den etwas schwammigeren Begriff der Vorliebe , und so weiter. Die Vorstellung, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Top und Bottom gibt, der es unmöglich macht, jemals die Rolle zu wechseln, ist und war schon immer Unfug. Wie es bei Queen besungen wird: One Heart - One Soul - One Vision . Schlimm genug, dass einige von uns den Wissenschaftlern geglaubt haben, und sich so benommen haben, als wären S-geneigte und M-geneigte zwei getrennte menschliche Rassen, die nur per Zufall sich wie Yin und Yang zu einem harmonischen Ganzen ergänzen. Das haben wir zu lange mitgemacht, es wird Zeit, auch diesen Teil von Krafft-Ebing zu begraben.
Und was ist mit denen unter uns, die nicht tatsächlich nie switchen, die nur eine Orientierung haben, und von den letzten Sätzen vermutlich ziemlich pikiert sind? Müssen die plötzlich außen vor bleiben?
Nein. Einmal ist die Anzahl der Sadomasochisten, die absolut noch nie die Rolle gewechselt haben, eher klein, und selbst in den elitärsten Kreisen hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass es nicht von unreinem Blut zeugt, wenn man die Dinge mal aus der anderen Perspektive sieht [7]. Weiter ist die Bereitschaft oder Neigung zum Switchen ein breites Spektrum, von einer Vorliebe nur für eine Rolle bis hin zu keiner besonderen Vorliebe, und so wird es auch bleiben. Auch daraus wird man uns keinen Strick drehen. Anders geworden ist für diese Leute nur, dass sie sich in der Öffentlichkeit nicht mehr als Sadisten oder Masochisten bezeichnen dürfen (außer mit dem Zusatz, dass sie von Außerirdischen gelenkt werden oder in Wirklichkeit Napoleon heißen), sondern jetzt Sadomasochisten mit einer Vorliebe bis zur Ausschließlichkeit für eine Rolle. Das wichtige Wort ist Sadomasochist - wie man die Details herüberbringt, ist ziemlich egal.
Die amerikanische National Leather Association hat 1987 bei einem Protestmarsch auf Washington D.C. den Spruch "safe, sane, and consensual [sicher, mit gesundem Menschenverstand und freiwillig]" zum Motto des Sadomasochismus erklärt [7]. Auch wenn diese Trias erwartungsgemäß eine Menge Protest einstecken musste, haben eine große Anzahl der amerikanischen Sadomasochisten sie erfolgreich als Leitlinie für Diskussionen mit der Öffentlichkeit übernommen. Eine andere Trias stammt aus Weinbergs [2] Versuch, den Sadomasochismus soziologisch zu beschreiben: er spricht von "erotic, recreational, and consensual [erotisch, zur Unterhaltung und freiwillig]". Wetzstein [3] spricht von Freiwilligkeit, Sicherheit, Kontrolliertheit und eine Reversiblität der Rollenverteilung. Und um wirklich tief in die Medizinkiste zu greifen: Bräutigam [14] sagt von Sadmasochisten in der Subkultur, dass sie kontrolliert vorgehen, im Alltag nicht aggressiv sind, und - wenn er das auch nur indirekt erwähnt - nur freiwillig spielen.
Welche dieser Beschreibungen können wir übernehmen?Alle . Freiwillig, erotisch, kontrolliert, sicher, mit einer reversiblen Rollenverteilung und mit gesundem Menschenverstand; ja, das ist nicht nur eine willkommene Abwechslung nach krank, pervers, emotional verkümmert, aggressiv, gefährlich, impotent und entwicklungsrückständig oder was man uns bisher noch an den Kopf geworfen hat, sondern auch Beschreibungen, die wenigstens grob auf uns zutreffen. Zur Unterhaltung wäre bestimmt eine Diskussion wert, und einige Leute werden sicherlich an anderen Stellen auch einiges zu meckern haben, aber mit diesen Beschreibungen können wir leben, gut sogar.
Der wichtigste Punkt, der, den wir immer schon selbst an erste Stelle gestellt haben, und der von allen Quellen oben auch unterstrichen wird, ist die Freiwilligkeit . Und nach wie vor ist das das Charakteristikum, das wir bei jeder Gelegenheit, passend oder unpassend, in die Köpfe unserer Mitmenschen einzuhämmern versuchen sollten. Wenn die Welt, von dem Arzt der Archives of Sexual Behaviour liest, zu Klein-Erna, die nur RTL Explosiv guckt, das endlich begriffen haben, können wir weitersehen. Bis dahin ist es gut zu wissen, dass wir auch für unsere eigene Beschreibung Rückendeckung von den Wissenschaftlern selbst haben.
Und was machen wir mit der ewigen Frage nach dem Ursprung der Neigung? Auch hier könnte man neunmalkluge Literatur ohne Ende zitieren, von Krafft-Ebing über Freud zu Sartre [15] und weiter, aber im Endeffekt wäre das Zeitverschwendung. Kein Mensch weiß, warum wir so sind, auch wenn einige von uns sehr überzeugt von sich selbst sagen, dass sie so geboren wurden, oder von einem Partner eingeführt wurden, oder ein Schlüsselerlebnis hatten. In der Subkultur wird die Frage oft prinzipiell abgelehnt, und genau das können wir auch weiter tun. Solange die Herren und Damen Forscher sich nicht mal darauf einigen können, wie die Homosexualität entsteht, können wir uns den Luxus erlauben, mit den Schultern zu zucken. Noch ein Bereich, wo man uns keinen Strick drehen wird, und ein interner Streit, den wir vermeiden können.
Das Zauberwort hier heißt sexuelle Minderheit . Unser Ziel sollte sein, genau diesen Status zu erreichen.
Es ist viel von der Vorbildfunktion der homosexuellen Emanzipation für die Sadomasochisten gesprochen worden, und hier ist ein Punkt, wo dieser Vergleich tatsächlich zutrifft. Homosexuelle sind immer noch als eine eigenständige Gruppe definiert, und die Medizin hat schon allein wegen AIDS ein Auge auf sie - genauso wie man uns immer im Auge behalten wird, weil man uns tödliche Unfälle bei Würgespielen vorhält. Aber man sucht Homosexualität in DSM-IV vergeblich, weil die Homosexualität keine Krankheit, sondern eine sexuelle Minderheit ist, eine harmlose Normvariante, wie man es auch mit dem vielzitierten Modell des Linkshänder zu beschrieben versucht.
DSM interessiert sich nicht für Normvarianten. Die allgemeine Bevölkerung mag zwar immer noch Homos für Perverse halten und sie bei Talkshows wie eine seltene Schneckenart anstarren, aber kein Arzt kann mehr sagen, dass sie pervers sind, und man kann in Psychiatrieklausuren jetzt durchfallen, wenn man Homosexuelle als behandlungsbedürftig oder krank bezeichnet. Minderheiten gesteht man zu, dass sie anders sind als die Mehrzahl der Bevölkerung, ohne dass man sie als krank abstempelt. Es ist müßig, hier die Vorteile aufzuzählen, die der Status als sexuelle Minderheit den Homosexuellen gebracht hat, halten wir hier nur fest, dass wir auch hier zu unseren Lebzeiten auf nichts Besseres hoffen können. "Anders" werden wir immer bleiben, man muss sich darüber im klaren sein, dass uns kein Mensch für normal halten wird, nur weil wir jetzt nicht mehr krank sind.
Ganz einfach wird das nicht. Krafft-Ebing hat uns als individuelle Kranke klassifiziert, wie auch Freud und jede Menge kluger Leute nach ihnen, nicht als Mitglieder einer Gruppe: Leute, die Masern, Syphilis oder Magenkrebs haben, sind schließlich auch keine richtige Gruppe. Der Begriff der sexuellen Minderheit taucht aber schon hier und da in der Literatur auf, wie auch in der Populärpresse [8]. Die amerikanischen Sadomasochisten sprechen selbst seit Jahren von einem ähnlichen Begriff, den tribes , also "Stämmen" [9]. Gute Karten haben wir daher eigentlich schon.
Neben der Vorbildfunktion der Homosexuellen, die auch einmal unter dem Gebrechen des "homosexuellen Syndroms" eingeordnet wurden, haben wir noch einen anderen Vorteil: Unsere Subkultur. Eine Subkultur zu haben, ist das beste Sprungbrett zur sexuellen Minderheit, und die Existenz einer sadomasochistischen Subkultur wird uns inzwischen fast überall anerkannt.
Dafür können wir uns kaum bei den Medizinern bedanken, an denen diese Feststellung teilweise spurlos vorüber gegangen zu sein scheint [16], sondern bei den Soziologen. Spengler [10] war 1977 wohl der erste, der die Wissenschaft darauf aufmerksam machen konnte, auch wenn er Krafft-Ebing darin folgte, die Frauen zu ignorieren. Es waren die Soziologen, die seinem Beispiel gefolgt sind, so dass heute die Vorstellung einer eigenen sadomasochistischen Subkultur in der Wissenschaft als gegeben gesehen wird [11]. Individuelle Kranke bilden keine Subkultur - allenfalls Selbsthilfegruppen. Und so sehr wir über die Populärpresse schimpfen, und egal wie verzerrt das Bild von uns in dem Massenmedien ist, sie haben die Existenz dieser Subkultur, unserer eigenen Sprache, eigene Regeln und Sitten so lautstark in die Welt getragen, dass es inzwischen Allgemeinwissen geworden ist.
Es wird zwar eine ganze Weile dauern und eine ziemliche Anstrengung bedeuten, den Status der sexuellen Minderheit offiziell zu erreichen. Und wir sollten uns auch nicht vormachen, dass alle begeistert sein werden, wenn wir ein Stück von dem Kuchen abhaben wollen. Aber es ist nicht utopisch. Und der erste Schritt in diese Richtung ist, uns selbst so zu nennen.
Es geht gar nicht mal darum, dass die Welt jetzt völlig anders ist. Tatsächlich haben wir das große Glück, kaum etwas ändern zu müssen, weil DSM-IV sich eigentlich nur etwas mehr der Wirklichkeit genähert hat, wie wir sie schon immer gesehen haben. Kleine Korrekturen, wie dass wir uns nicht mehr Sadisten oder Masochisten nennen sollten, sind da fast nur Kosmetik, schnell angewöhnt. Die größeren Gruppen und Organisationen, die viel mit Ärzten oder Finanzämtern oder ähnlichen Stellen zu tun haben, müssen sich vielleicht etwas genauer mit der Statusänderung beschäftigen, um das denen erklären zu können, aber für den Feld-, Wald- und Wiesen-Sadomasochisten liegt die Änderung tatsächlich auf einer anderen Ebene.
Wenn man sich Sadomasochist nennt, kann man das jetzt nicht nur mit dem Wissen machen, dass man als Nichtperverser die volle Autorität der Justiz und der Medizin hinter sich hat, sondern mit dem Bewusstsein, dass man damit für sich und seine Neigungsgenossen eine Identität schafft, die weit weg von allem Krankhaften sein kann.
Und an diesem bewussten Umgang mit unserer Identität fehlt es an allen Ecken und Enden. Wie beschrieben sprechen die SMarties in ihren Infos zwar immer und jetzt mit noch mehr Berechtigung vom Sadomasochismus, aber sie kürzen es, vermutlich ohne nachzudenken, mit S/M ab. In dem Wort "Sadomasochismus" gibt es aber keinen Schrägstrich: S/M ist die Abkürzung für "Sadismus/Masochismus", die alte Einteilung nach Krafft-Ebing, der wir nach 110 Jahren endlich entkommen sind. Noch schlimmer ist natürlich S&M, unübersehbar der Ausdruck dafür, dass man noch von "Sadismus und Masochismus", zwei eigenständigen Krankheiten, ausgeht. Die Abkürzung von Sadomasochismus ist SM und nur SM, weil es nichts gibt, was da getrennt wäre oder künstlich vereinigt werden müsste. Viele Gruppen und einzelne Sadomasochisten machen das heute schon so, von den Schlagzeilen über Dominguez [9], und nicht umsonst haben Soziologen wie Wetzstein [3] diese Abkürzung für Sadomasochismus übernommen.
Liebe Leute, lasst Euch von Eurer Faulheit überwältigen und vergesst nächstes Mal die Sonderzeichen zwischen dem S und dem M. Die bewusste Vereinigung der Buchstaben - um melodramatisch zu werden - ist das beste Zeichen für eine viel wichtigere Einigkeit.
Einigkeit, können wir das überhaupt ? Die Fähigkeit zu konstruktiven Zusammenarbeit war bisher, gelinde gesagt, nicht gerade ein hervorstechendes Merkmal der deutschsprachigen Subkultur. Bisher schien es immer so zu sein, dass, wenn jemand eine Idee hatte, egal wie gut, sich sofort jemand anders fand, der genau das Gegenteil machen musste, nur um zu beweisen, dass er unabhängig/eigenständig/anders ist. Die Vorstellung, unter einer Gruppe von notorischen Einzelkämpfern eine gemeinsame Identität errichten zu können, klingt ziemlich tapfer. Und schon jetzt ist klar, dass sich einige trotzdem weiter als Sadisten bezeichnen werden, aus purem Trotz und um uns allen zu beweisen, dass sie wahre Individualisten sind. Unterhaltsam wie Anarchie um jeden Preis sein kann, ist nach DSM-IV die Zeit endgültig vorbei, wo wir uns solche Kindereien weiter im großen Stil erlauben können.
DSM-IV hat uns, vermutlich mehr aus Versehen, zu "Nichtkranken" erklärt, ohne uns eine andere Klassifikation aufzudrücken. Wir haben eine kurze Zeitspanne, in der wir eine eigene Identität festlegen können, wenn auch innerhalb ziemlich enger Grenzen. Wenn wir es nicht schaffen, wird jemand anders es für uns tun - und dieser Jemand könnte sehr gut ein neuer Krafft-Ebing sein.
Tatsächlich sind die Zeichen gar nicht so schlecht. Auch wenn die Freiheit etwas unerwartet kommt, sind die meisten Stücke schon vorhanden. Der Name Sadomasochist ist der Normalfall, auch wenn einige Leute sich nie Gedanken darüber gemacht haben, warum oder wie es abgekürzt wird, der Begriff der sexuellen Minderheit schwirrte dem Meisten auch schon irgendwo im Kopf herum, und von der Freiwilligkeit reden wir schon seit Jahren. Und es sind sogar die ersten Fundamente einer internationalen Identität vorhanden, auch wenn die meisten hierzulande die Leather Pride Flag nicht erkennen würden, wenn die Darkrooms damit tapeziert wären.
Wenn wir es nur schaffen können, etwas anderes als Keine Kooperation ! zu unserem Motto zu machen.
Pat Califia ist eine lesbische Sadomasochistin, die es kraft ihrer Schreibfähigkeiten ohne formelle wissenschaftliche Ausbildung geschafft hat, in den Kreisen der medizinischen Literatur ernst genommen zu werden [2]. Sie hat damit bewiesen, dass man auch als Nichtwissenschaftler, notfalls sogar als Einzelner, die Meinungen der Experten ändern kann. Deswegen soll der letzte Satz aus [7], ihr Aufruf zur Einigkeit, ihr Aufruf zu einer gemeinsamen Identität, auch der letzte dieses Textes sein:
Niemals zuvor war es so vielen von uns möglich, zusammenzukommen und eine gemeinsame Sprache, Kunst, Politik und Kultur zu erschaffen. Dein Beitrag dazu wird dringend benötigt.
Sexueller Masochismus (302.83):
Sexueller Sadismus (302.84):
DSM 302.81 ist übrigens Fetischimus, DSM 302.82 Voyeurismus. Eine Klassifikation von Sadomasochismus als DSM 302.8 wäre also schon deswegen zum Glück nicht möglich.
Wer sich jetzt fragt, wie in aller Welt so was als revolutionär gelten kann, soll sich das B-Kriterium von DSM-III-R noch mal vor Augen halten (für Sadismus und Masochismus gleich):
Sprich, bis 1994 galt jeder, der eine sadomasochistische Handlung über einen gewissen Zeitraum vornahm oder vornehmen ließ, automatisch als krank. Selbst wenn es ein gelegentliches Fesseln oder eine Augenbinde war.
[2] Weinberg, Thomas S. "S&M - Studies in Dominance and Submission" (Hrsg.) Prometheus Books, New York 1995 ISBN 0-8797-5-978-X. Gegenwärtig die beste Übersicht der formellen Forschung über den Sadomasochismus. Enthält neben den historischen Arbeiten von Freud, Krafft-Ebing und anderen auch Texte von Pat Califia und neueren Arbeiten. Weinberg selbst ist Professor der Soziologie, zusammen mit G.W. Levi Kamel hat er einen großen Anteil daran gehabt, die alte, medizinische Vorstellung von Sadomasochisten als individuelle Kranke durch das neuere Bild der sexuellen Minderheit in einer Subkultur zu ersetzen. Die letzte Arbeit in diesem Buch, "Sociological and Social Psychological Issues in the Study of Sadomasochism" stellt einen Versuch dar, diese neue Sichtweise zusammenzufassen. Auch wenn sie an einigen Ecken und Enden noch hinkt, ist sie nah genug an der Wirklichkeit, um uns Unterstützung von wissenschaftlicher Seite bieten zu können.
[3] Wetzstein, T.A. et al: "Sadomasochismus. Szenen und Rituale". Rowohlt Verlag 1994, ISBN 3-499-19632-8. Das gegenwärtig beste Buch zum Sadomasochismus in deutscher Sprache, basierend auf der Trierer Studie. Geht wie die Arbeiten von Forschern wie Weinberg [2] von einem soziologischen/ethnologischen Ansatz aus und vermeidet daher die meisten alten Vorurteile. Leider werden die kommerziellen und nichtkommerziellen Sadomasochisten über weite Strecken einfach zusammengeworfen, und besonders gegen Ende werden die eigentlichen Ergebnisse von dem Versuch der Anbindung an soziologische Theorien überwältigt. Trotzdem eine sehr wichtige Arbeit, und es ist bedauerlich, dass die Autoren sich nicht um eine englischsprachige Zusammenfassung bemüht haben, so dass die Studie außerhalb Mitteleuropas unbekannt geblieben ist.
[4] Sitzmann, V. "Zur Strafbarkeit sado-masochistischer Körperverletzung", in: Pötz, P.-G. (Hrsg.) "Goltdammers' Archiv für Strafrecht" 2/91 Heidelberg 1991. Seite 71-81. Der Standardtext über den rechtlichen Status von sadomasochistischen Handlungen in Deutschland. Eine Abhandlung zu diesem Thema durch den AK Recht findet sich in der Szene Intern von Februar 1993. Danke nochmal an Alexander für diese Quelle.
[5] Die Bibel. Einheitsübersetzung. Sprichwörter 27,6: "Treu gemeint sind die Schläge eines Freundes". Obwohl die Bibel jede andere der klassischen Perversionen, von der Homosexualität bis zur Zoophilie, als Sünde darstellt, enthält sie keine Passage, die sadomasochistische Praktiken verurteilen würde.
[6] Pincus, HA. et al.: "DSM-IV and New Diagnostic Categories: Holding the Line on Proliferation". American Journal of Psychiatry 149:1, Januar 1992, Seiten 112-117. Kurzer Text, der erklärt, nach welchen Kriterien neue Diagnosen in DSM aufgenommen und alte gestrichen werden. Die für Außenstehende unverständlich hohe Bewertung der Tradition, die hier ungeniert verteidigt wird, ist der wichtigste Grund dafür, dass eine völlige Abschaffung der Diagnosen Sadismus und Masochismus als utopisch für die nächsten Jahrzehnte gelten muss.
[7] Califia, Pat "Sensuous Magic". Masquerade Books, Inc., New York 1993, ISBN 1-56333-131-4, 184 Seiten, $12,95. Sicher einer der besten Bücher für Anfänger auf dem Markt. Califia ist in ihrer Einstellung für europäische Verhältnisse sehr radikal, aber immer lesenswert.
[8] Kershaw, Alex "Love Hurts", The Guardian Weekend, November 1992, Seite 6-12. Zitiert in Weinberg und Magill, "Sadomasochistic Themes in Mainstream Culture" aus [2].
[9] Dominguez, Ivo Jr. "Beneath the Skins. The New Spirit and Politics of the Kink Community". Daedalus Publishing Company, Los Angeles 1994, ISBN 1-881943-06-2, 154 Seiten, $12,95. Einer der ersten Bücher über die politische Seite des Sadomasochismus, in Form von verschiedenen Aufsätzen des schwulen Autors. Mit einem stark spirituellen Einschlag, leider auch etwas wechselhaft in der Qualität.
[10] Spengler, Andreas "Sadomasochisten und ihre Subkulturen". Campus Verlag Frankfurt/M, 1979. Auch: "Manifest Sadomasochism of Males: Results of an Empirical Study". Archives of Sexual Behaviour 6/1977, Seite 441-56. Eine der ersten Studien, die die sadomasochistische Subkultur als solche erkannt haben. Besonders amerikanische Forscher zitieren die Arbeit von 1977 gerne, fatal daran ist nur, dass Spengler von der Vorstellung ausgegangen ist, dass es keine weiblichen Sadomasochisten gibt, und sie deswegen auch nicht ernsthaft zu finden versucht hat . Der Schaden, der dadurch entstanden ist, wird jetzt erst langsam durch Arbeiten wie die von Breslow [11], Levitt und Wetzstein [3] repariert. Bis heute sind viele Forscher aber immer noch erstaunt, wenn sie von weiblichen Sadomasochisten hören, ein Punkt, der bei Sadomasochisten selbst verständlicherweise zu einigem Hohn über den Stand der Forschung geführt hat.
[11] Breslow et al "On the Prevalence and Roles of Females in the Sadomasochistic Subculture: Report of an Empirical Study". Archives of Sexual Behaviour 14/1985, Seite 303-17. Nachgedruckt in [2]. Die Studie, die den größten Anteil daran hatte, die Vorstellung vom Sadomasochismus als eine rein männliche "Perversion" zu ändern. Noch 1994 erschien von Levitt eine Studie, in der das Vorhandensein von Frauen mit fast Erstaunen bestätigt wurde. Hier zitiert, weil sie zeigt, wie sehr sich der Begriff der Subkultur schon 1985 als gegeben hingenommen wurde.
[12] Giese, Hans "Psychopathologie der Sexualität". Ferdinand Enke Verlag Stuttgart 1962. Das Nachfolgewerk zu Krafft-Ebings berüchtigtem Psychopathologica Sexualis bietet faszinierende, wenn auch erschreckende Einblicke in die Vorstellungen der Medizin über die Sexualität, nach der die meisten heutigen Ärzte noch ausgebildet wurden. Neben 40 Seiten über die Bedeutung der christlichen Grundwerte für den Mediziner enthält es ausführliche Beschreibungen des "homosexuellen Syndroms". Große Teile des Materials über den Sadismus und Masochismus sind von Sartre [15] abgeschrieben, als wären dessen theoretischen Überlegungen mit harten Daten gleichzusetzen.
[13] Moser, C. et al. "An Exploratory-Descriptive Study of a Sadomasochistically Oriented Sample." The Journal of Sex Research 23, 1987, Seite 322-37. Nachdruck in [2]. Einer der wenigen Studien, die brauchbare Zahlen über die Vorlieben und Charakteristika von Sadomasochisten liefern. Moser vergleicht seine Daten teilweise mit denen von Spengler [10], und ist auch dementsprechend wieder etwas überrascht, eine beachtliche Anzahl Frauen zu finden.
[14] Bräutigam, Walter "Sexualmedizin im Grundriss". Dritte Auflage, Thieme Verlag Stuttgart 1989, ISBN 3-13-542203-8. Trotz des relativ hohen Alters des Eintrags über Sadismus und Masochismus, einer mangelnden Trennung zwischen kommerziellen und nichtkommerziellen Gruppen, und einem Festhalten an gewissen Teilen der Freudschen Theorie immer noch eine der fairsten Darstellungen des Sadomasochismus in der formellen Medizin. Bräutigam unterstreicht hier besonders die fehlende Gefahr für die Allgemeinheit durch Sadomasochisten und die Kontrolliertheit ihrer Aktionen. Der Thieme Verlag ist auf medizinische Textbücher spezialisiert und genießt unter Ärzten hohes Ansehen.
[15] Sartre, Jean-Paul "Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie". Rowohlt Verlag 1995, ISBN 3-499-13316-4. Originalausgabe 1943. Sartres Vorstellungen zu Sadismus und Masochismus haben wenig Bodenhaftung in der Realität. Sadismus und Masochismus werden als "Übernahme von Schuld" gesehen, als Laster, sie können nur Männer betreffen und es gibt nur die Möglichkeit einer kommerziellen Auslebung. Wie wenige Kontakt Sartre mit wirklichen Sadomasochisten gehabt haben kann, sieht man an seiner Folgerung, dass das Scheitern einer Beziehung vom Masochisten als lustvoll erlebt wird. Bedauerlicherweise haben Sexualwissenschaftler wie Giese [12] einige dieser Gedanken kritiklos übernommen, so dass sie Teil der allgemeinen Vorurteile über den Sadomasochismus geworden sind. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant zu wissen, dass Simone de Beauvoir, die aus feministischer Perspektive einiges über den Sadomasochismus geschrieben hat, die Lebensgefährtin von Sartre war.
[16] Payk, Theo R. "Checkliste Psychiatrie". Zweite Auflage, Thieme Verlag Stuttgart, 1992. ISBN 3-13-710202-2. Ein Beispiel dafür, wie die Medizin streckenweise unfähig zu sein scheint, die neueren Erkenntnisse ihrer eigenen Forschung in die Praxis umzusetzen. Payk erwähnt mit keinem Wort das Vorhandensein einer sadomasochistischen Subkultur, und seine Darstellung unterscheidet sich selbst 1992 nur unwesentlich von der Krafft-Ebings. Dass es schon 1989 anders ging, auch wenn die Datenlage damals noch schlechter war, zeigt Bräutigam in [14].
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